Ein Baum voller Leben

Stellen Sie sich vor, Sie würden im weichen, grünen Moos zwischen den starken Wurzeln eines mächtigen Baums liegen. Ihr Blick wandert seinem Stamm entlang bis hoch hinauf in seine ausladende Krone. Saftig-grün leuchtet sein Blätterkleid, das im Frühling mit neuer Kraft ausgetrieben ist. Ein sanfter Wind spielt zwischen seinen Ästen. Sonnenstrahlen wärmen Ihre Haut, irgendwo hören Sie das Klopfen eines Spechts. Vögel zwitschern, Insekten summen und am Boden neben sich hören Sie das Krabbeln und Rascheln von winzigen Beinen. Der Baum pulsiert mit Leben.

Mit wie viel Leben tatsächlich erfahren wir erst, wenn wir genauer hinsehen. Jeder einzelne Baum schenkt Leben von der Wurzel über den kräftigen Stamm bis hinauf zum höchsten Blatt in seiner Baumkrone. Je älter und größer der Baum, desto reichhaltiger gefüllt ist der Korb seiner vielen Gaben. Begeben Sie sich mit uns nun also auf Entdeckungsreise in die geheimnisvolle Welt des Baums:

Wenn Wanzen baden

Bereits als kleiner Keimling baut der Baum Beziehungen mit anderen Bodenbewohnern auf, zum Beispiel mit Bakterien und Pilzen. Vor allem Mykorrhiza-Pilze versorgen den Baum sein Leben lang mit Nährstoffen und erhalten im Austausch dafür Zucker als Energiequelle. Den Zucker stellt der Baum durch Photosynthese in seinen Blättern her und transportiert ihn im Pflanzensaft gelöst hinunter bis in seine Wurzeln. Ist der Baum schon größer, beginnt jeweils im Herbst, wenn das Laub des Baums zu Boden fällt, ein Festessen für zahlreiche Kleinstlebewesen, die sich im Boden tummeln; Springschwänze, Milben, Regenwürmer, Asseln, Spinnen und Käfer ernähren sich vom herabfallenden Laub und produzieren dabei fruchtbaren Humus. Viele dieser Nährstoffe kann der Baum dank der Pilze wieder zu sich nehmen.

Aus den Wurzeln wächst der Baumstamm hoch in den Himmel. Wenn die Sonne auf den Stamm scheint, machen wärmeliebende Insekten wie Bienen, Wespen, Wanzen und Käfer dort gern eine Pause und nehmen ein Sonnenbad. Vor allem die roten Feuerwanzen treffen sich auf warmen Baumstämmen und vollziehen dort auch gleich ihre Paarung. Beim älteren Baum wird die Rinde an einigen Stellen schwächer oder platzt auf. In diesen Spalten fühlen sich Käfer pudelwohl und nagen ihre Gänge. In besonders weiten Spalten unter der Rinde suchen Fledermäuse ein Nacht- oder Winterquartier. Unter den starken Wurzeln finden sich manchmal Mäuse, Füchse oder Dachse ein, die dort ihren Bau anlegen, um besser vor Regen und Kälte geschützt zu sein.

Efeu oder andere rankende Pflanzen klettern am Baumstamm empor, um im schattigen Wald ein wenig Sonnenlicht zu erhaschen. Dabei fügen sie dem Baum jedoch keinen Schaden zu. Das dichte Buschwerk dieser Rankpflanzen bietet einen zusätzlichen Lebensraum, in dem Vögel brüten oder sich Fledermäuse, Siebenschläfer, Haselmäuse oder Eichhörnchen verstecken. Der Efeu ist eine der wenigen Pflanzen, die noch spät im Jahr, manchmal bis in den Dezember hinein, blüht und den Bienen den letzten zuckerreichen Nektar des Jahres bietet. Die kurz darauf erscheinenden Beeren sind wertvolles Winterfutter für viele Vogelarten.

Eine Höhle für viele

Die Baumhöhle ist ein ganz besonderer Lebensraum, der erst mit der Zeit sein volles Potenzial entfaltet. Alles beginnt mit dem Specht, der sich entscheidet, ein neues Nest zu bauen. Das Loch, das er hoch oben in den Baumstamm hämmert, ist allerdings im ersten Jahr noch zu eng für den Vogel und so überlässt er es ein paar Jahre lang den jetzt eindringenden holzzersetzenden Pilzen. Holzfressende Käfer folgen und ernähren sich vom morschen Holz. Irgendwann ist die Höhle so groß geworden, dass nach ein wenig Hausputz der Specht oder eine andere Vogelart mitsamt der ganzen Familie einziehen kann. Über die Jahre hinweg wird dieses komfortable Wohnquartier immer weiträumiger und bietet dabei verschiedensten Vogel- und Fledermausarten einen Platz zur Aufzucht ihrer Jungen. Irgendwann ist die Baumhöhle groß genug, dass sogar der Wintervorrat an Honig eines ganzen Bienenvolkes hineinpasst; die Bienen werden dann viele Jahre in der Baumhöhle bleiben.

Ein Biotop in der Baumkrone

Das fleißigste Gewusel der größeren Tiere kann man in der Baumkrone beobachten. Eichhörnchen bauen dort für die Aufzucht ihres Nachwuchses sogenannte Kogel, Kugeln aus Zweigen und Laub. Vögeln errichten aus Reisig und Gras ihre Nester in den Zweigen und singen um die Wette. In manchen Astbeugen sammelt sich das Regenwasser. Diese kleinen Vogeltränken und -bäder sind zugleich winzige Biotope und werden schnell von Mikroorganismen besiedelt. Auf den obersten Ästen des Baums lassen sich gerne Greifvögel nieder, die von dort aus den besten Überblick haben und nach Beute Ausschau halten.

Blattläuse saugen den süßen Pflanzensaft aus Blättern und jungen Zweigen. Oft genug enden die Läuse selbst als leckere Zwischenmahlzeit für einen hungrigen Vogel. Doch während ihres kurzen Lebens haben sie ein Heer von Beschützern: die Ameisen. Diese haben großes Interesse an den süßen, zuckerhaltigen Ausscheidungen der Blattläuse. Im Austausch für den schmackhaften Pflanzensaft hüten und beschützen die Ameisen ihre Herde von Blattläusen vor räuberischen Insekten.

Auch manch eine Schmetterlings- oder Mottenraupe schlägt sich in der Baumkrone den Bauch mit Blättern voll, bevor sie sich verpuppt und später als prächtiger Falter schlüpft. Und die Blüten des Baums werden von Bienen und anderen bestäubenden Insekten wie Wespen, Schwebfliegen und Käfern besucht, die dort Nektar naschen und Pollen sammeln.

Alle Tiere im Baum benötigen Nahrung. Einen Großteil davon finden sie auf „ihrem“ Baum in Form von Nektar, Pollen, Früchten und Blättern sowie als Totholz, oder sie verspeisen die im Baum lebenden Insekten. Wenn ein Ast abbricht und zu Boden fällt, beginnt ein sehr langsamer Zersetzungsprozess, dank dem verschiedenste Insekten, die sich vom toten und morschen Holz ernähren, leben können. Holzkäfer, Wespen- und Bienenarten fressen sich durch das Holz oder legen dort ihre Eier ab. Manche Käferlarven verpuppen sich und entwickeln sich sehr langsam über mehrere Jahre hinweg, bis sie endlich das Licht der Welt erblicken. Schlupfwespen ernähren sich wiederum von diesen Insektenlarven, wenn sie das Glück haben, an sie heranzukommen.

Die dank der Bestäubung im Spätsommer erscheinenden Früchte sind eines der kostbarsten Geschenke des Baumes an all seine Bewohner, für die er so großzügig sorgt. Wenn der Baum Glück hat, verschleppt ein eifriger Eichelhäher oder ein fleißiges Eichhörnchen seine Früchte in ein Versteck im Boden und vergisst den Vorrat, sodass der kleine Same dort keimen kann.

Und so beginnt ein neuer Baum sein Leben, wobei er in etwa 100 Jahren genauso vielen Lebewesen ein Heim und Nahrung bieten wird, wie es einst der Baum tat, von dem er stammt. Ist die Welt nicht voller Wunder?

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